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Kunst und Kammzug

Ein Kunstquartier soll im Süden Göttingens entstehen, dort, wo mittelalterliche Gebäude das Auge bezirzen und schon heute das Günter-Grass-Archiv seinen Platz hat. Nun ist das Kunsthaus hinzugekommen, ein fulminanter Neubau, in dem vorzugsweise Arbeiten auf Papier präsentiert werden. Ebenso fulminant: Die Fassade mit ihrem Kammzug.

Die Nachbarn sind alt, sehr alt. Seit über 700 Jahren stehen sie hier in der Düsteren Straße, geduckt, zurückhaltend, aber mit fein restauriertem Fachwerk. Zwischen sie hat sich nun ein Neubau platziert. Gedrängt wäre falsch, denn der Neuling zeigt viel Respekt, bändelt mit seinen Nachbarn an, entstammt aber unverkennbar der Jetztzeit. Das Kunsthaus Göttingen, 2021 eröffnet, ist ein gelungenes Werk: Es fügt sich harmonisch in die schmale Lücke der Göttinger Altstadt ein und bietet auf seinen insgesamt vier Geschossen eine Ausstellungsfläche von 500 Quadratmetern – bei einer Grundstücksgröße von gerade mal 140 Quadratmetern. Knapp drei Jahre wurde am Kunsthaus gebaut, dessen Konzeption auf den Wettbewerb des Jahres 2016 zurückgeht.

Alt und neu in der Düsteren Straße

Wer die Düstere Straße in der südlichen Altstadt Göttingens entlanggeht, wird das neue Gebäude vermutlich erst gar nicht wahrnehmen. Der Neubau, entworfen vom Leipziger Architekturbüro Atelier ST, bleibt sehr dicht an den historischen Bautraditionen, zumindest auf formaler Ebene, während der Stahlbetonbau mit seinem mineralischen Wärmedamm-Verbundsystem konstruktiv ein Kind seiner Zeit ist. Die Traufständigkeit, das spitze Dach, die Betonung der Horizontalen und das der Rähmbauweise nachempfundene Auskragen der einzelnen Etagen – all dies sind Anleihen aus der Tradition mittelalterlichen Bauens. Im Inneren jedoch herrscht kompromisslose moderne Reduktion, aus der eine charaktervolle Bühne für die Exponate der Druckgrafik und Fotografie erwächst. Hohe Räume, ein bis in den First offenes Dachgeschoss, Sichtbeton und filigrane Treppengeländer: all das gibt dem Haus eine elegante, klare und bewusste Erscheinung. „Es sollte bis auf die Wandflächen der Ausstellungsräume ein veredelter Rohbau bleiben“, so Architekt Sebastian Thaut.

Wenn die Augenbrauen zucken

Reduktion prägt auch den Duktus der Fassade: Monochrom in einem warmen Hellgrau gehalten und nur mit wenigen Öffnungen versehen, fällt sie in der Straßenflucht zunächst kaum auf. Steht man jedoch unmittelbar vor ihr, dann dürften die Augenbrauen nach oben zucken. Und eine Weile oben bleiben. Denn die komplette Straßenfassade wurde wie auch die zum halböffentlichen Hof orientierte Fassade mit einem horizontalen Kammzug versehen – in einer Perfektion, die ihresgleichen sucht. So präzise die Plastizität, so präzise läuft der Zug über die gesamte Länge der Fassade – wer die Technik kennt, der weiß, wie herausfordernd sie sein kann.

In Göttingen gelang die Umsetzung geradezu beispielhaft – mittels eines rund 60 Zentimeter breiten Werkzeugs, kombiniert mit einer Führungsschiene sowie der notwendigen Mischung aus ruhiger Hand, beherzter Bewegung und dem persönlichen Einsatz der ausführenden Fachhandwerker des Küllstedter Malerbetriebs Bosold.

Ergänzt werden die beiden Hauptfassaden durch die Besenstrich-Technik an den Giebelseiten: der Oberputz erhielt hier ebenfalls eine horizontale, jedoch feinere Strukturierung. Die bewusste Anwendung des traditionellen Stilelements der Fassadenhierarchie gliedert das Kunsthaus also in doppeltem Sinn in den geschlossenen historischen Straßenzug ein. Das Kunsthaus beweist also, dass die beiden traditionellen, handwerklichen Techniken auch in der heutigen Architektur ihre Berechtigung haben.

Schritt für Schritt

Vor der endgültigen Ausführung des Kammzuges entstanden mehrere Probemuster für Farbton und Struktur, die vor Ort gesichtet, verändert, bewertet und schließlich verbindlich abgenommen wurden.

Der Kammzug war übrigens als wesentliches und definiertes Merkmal der Fassade bereits im öffentlichen Ausschreibungsverfahren enthalten und wurde dadurch entsprechend vergütet – eine leider oft unterschätzte Voraussetzung für Qualität. Die Erstellung von Mustern wurde – genauso wie das Anfertigen des Werkzeugs – gesondert vergütet, was die Relevanz hervorhebt. Der „Kamm“ selbst blieb nach Ausgebrauch beim Bauherrn – für künftige Ausbesserungen oder Renovierungen.

Mit einer Tiefe von rund drei Millimetern nimmt der Kammzug Teilbereiche des Capatect Fassadenputzes fein ab. Das Ergebnis ist eine horizontal und linear strukturierte Fassade mit einer – vor allem bei bestimmten Lichtverhältnissen – faszinierenden Plastizität. „Mit dem Kammzug war ein einzelner Mitarbeiter betraut, was die konstante Handschrift und Qualität sicherstellte. Auch dies trug wesentlich zum Ergebnis bei“, so Bauleiterin Nicole Thiele.

Ebenso relevant war die präzise Arbeitsvorbereitung: Die Mitarbeitenden von Christian Bosold maßen die Fassadenbereiche der Höhe nach zunächst genau auf und positionierten die jeweilige Führungsschiene so, dass unabhängig vom Geschossversatz immer gleiche Kammzug-Rapporte entstanden. Nicht nur dies, auch die enge Abstimmung mit dem Gerüstbau, der flexibel auf den Stand der Fassadenbearbeitung reagierte, sicherte

die Gleichmäßigkeit der Fassadenstruktur.

Das Papier nach außen geholt

Übrigens ist der Kammzug nicht einfach eine formale, oberflächliche Idee, er trägt das, was in seinem Inneren stattfindet, in gewisser Weise nach außen. „Der klar gegliederte Baukörper erinnert mit seiner horizontalen Putzstruktur an einen Stapel Bücher und an geschichtete Papiere“, so Sebastian Thaut. Jene Papiere, die als Druckgrafiken das Kunsthaus beleben.

Armin Scharf

Bautafel

Objekt: Kunsthaus Göttingen, Göttingen

Architektur: Atelier ST, Leipzig

Bauleitung: onp-Schwieger GmbH, Göttingen

Bauherr: Stadt Göttingen

Ausführung Fassade: Malerbetrieb Bosold, Küllstedt

Caparol-Außendienst: Günter Krämer

Verwendete Caparol-Produkte (Auswahl): Capatect MW Fassadendämmplatte 159, Capatect Modelier- und Spachtelmasse 134, Capatect Klebe- und Armierungsmasse 186M, Capatect Fassadenputz fein, Caparol Putzgrund 610, Fassadenfarbe Sylitol Finish 130

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